Donnerstag, 30. Dezember 2010

Rezension – Melinda Nadj Abonji: »Tauben fliegen auf«

Eigentlich dürfte ich über »Tauben fliegen auf« von Melinda Nadj Abonji gar keine Rezension schreiben, da ich dafür eindeutig nicht objektiv genug bin. Als ich im Börsenblatt zum ersten Mal die Longlist genauer unter die Lupe nahm, wünschte ich mir sofort, ihr Buch in den Händen zu halten, und ich kaufte und las es, noch bevor sie überraschenderweise (zumindest für den Rest der Welt) auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis landete. Und ich liebte ihr Buch schon, bevor ihr Name von Gottfried Honnefelder ausgesprochen wurde.

Aber ich versuche einfach mal, objektiv zu bleiben. Ein bisschen zumindest. Und ich würde mich über Rückmeldungen von Lesern freuen, die ebenfalls einen Blick hineingeworfen haben und nicht eine ähnliche Biografie wie die Autorin vorzuweisen haben.

Dieser Roman erzählt vieles, denn mit der Hauptfigur Ildiko Kocsis und ihrer Familie sind viele Länder, Zeiten und Kriege verbunden. Ildi stammt aus der Vojvodina und gehörte in diesem Gebiet im Norden von Serbien der ungarischen Minderheit an. Die Eltern emigrieren in die Schweiz und Ildi und Nomi folgen ihnen später, wachsen zunächst bei ihren Großeltern auf. Die Geschichte pendelt zwischen der Kindheit in der Vojvodina und der Gegenwart in der Schweiz, zerreißt förmlich in den nostalgischen, schönen, märchenhaften, heimeligen, naiven, beschränkten Erinnerungen und den Geheimnissen, die immer wieder als Disharmonien in der Heimat anklingen. Aber da ist auch wieder die Gegenwart, die neue Sprache, die fremde Kultur. Krampfhaft passen sich die Kocsis diesem Leben an. In ihrem Restaurant wird nur Deutsch gesprochen, um die Fassade aufrecht zu erhalten. Ildi fühlt sich hier jedoch nie daheim und dieses Gefühl wird durch die Ablehnung einiger Dorfbewohner immer weiter vorangetrieben, bis sie schließlich rebelliert.

Die Themen, die von Melinda Nadj Abonji erzählt werden, bewegen. Dazu gehört der Abschied von den Großeltern und somit von einer Heimat, die sich durch Kriege verändert hat und ihrerseits eine Verfremdung auslöst. Der Verlust der Großeltern, der Verwandten, der friedlichen Kindheit, der Heimat; die Zerrissenheit im neuen Land, das nahe und ferne Miterleben des Krieges, das Schicksal vieler Familienmitglieder rührt in den Gedanken des Lesers. Der Aufbau einer neuen Existenz in der Schweiz und die Ablehnung macht betroffen.
Es sind große Themen, die groß aufgezogen werden – in einer wundervollen Sprache und leisen, klangvollen Bildern. Obwohl die Autorin betont, selbst keine Erinnerungen mehr an ihren eigenen Einzug in die Schweiz zu haben und sie vieles aus ihrer Kindheit in der Vojvodina vergessen hat, gelingt es ihr unheimlich gut, sich in Ildi hineinzuversetzen. Die Bilder, die sie schreibend malt, waren Gefühle und Erinnerungen, die ihren Widerhall in eigenen, längst vergessenen Gedanken fand. Noch nie habe ich die Zerrissenheit eines Protagonisten so deutlich gespürt, ohne das es je direkt angesprochen wird. Ihr Stil ist anspruchsvoll, aber lesbar. In langen Sätzen verwebt sie Dialoge ohne Anführungszeichen und gerade diese Spielereien habe ich geliebt.

Somit hat »Tauben fliegen auf« den Deutschen Buchpreis meiner Meinung nach verdient gewonnen. Es ist ein wichtiges, exotisches, anrührendes Werk, das eine Seite von Europa erzählt, über die noch nicht oft berichtet worden ist.

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